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ÜBER DIESES PROJEKT

Unsere beiden AudioWalks nehmen Sie mit auf eine Reise durch das jüdische Czernowitz und Chişinău und ermöglichen Ihnen, viele der fast vergessenen Orte des jüdischen Lebens in den Städten zu entdecken.

Nutzen Sie unsere Multimedia-Karten und erkunden Sie dabei das Archivmaterial sowie die Familienbilder und persönlichen Geschichten von 21 jüdischen Holocaust-Überlebenden, um einen einzigartigen Einblick in das vielfältige jüdische Erbe dieser beiden europäischen Städte zu erhalten.

Mahnmal für die Pogrome 1903
Mahnmal für die Pogrome 1903

Mahnmal für die Pogrome 1903

Element 340
Parcul Alunelul, Calea Ieşilor
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Der Parcul Alunelul war früher Teil des jüdischen Friedhofs. In der sowjetischen Zeit, Ende der 1950er Jahre, wurde der ältere Teil des Friedhofs aufgelassen, jener Park angelegt und Tennishallen errichtet, die die Grünanlage bis in die Gegenwart vom verbliebenen Teil des jüdischen Friedhofs trennen. Überall im Park finden sich steinerne Überreste, die sich teils eindeutig ehemaligen Grabsteinen zuordnen lassen.

Im Nordosten des Parcul Alunelul, wo früher ein Synagogengebäude in der Nähe des ehemaligen Haupteingangs stand, findet sich heute das Mahnmal für die Pogrome in Chişinău Anfang des 20. Jahrhunderts. Ein roter, gespaltener Granitstein erinnert seit 1993 an die Ereignisse 90 Jahre zuvor. Seit 2003, anlässlich des 100. Jahrestags der Pogrome von 1903, ergänzt ein querliegender Stein mit Inschrift die Gedenkstätte. Eine Infotafel fasst die Ereignisse vom April 1903 in Rumänisch, Russisch und Englisch zusammen.

Auslöser der Pogrome war das Gerücht vom Mord an einem christlichen Jungen, für den Juden verantwortlich gemacht wurden – zu Unrecht, wie sich später herausstellen sollte. Angestachelt durch antisemitische Medien zog am 6. und 7. April 1903 – die orthodoxen Christen feierten Ostern, die jüdische Gemeinde Pessach – ein Mob aus Erwachsenen, Jugendlichen und religiösen Studenten durch die Stadt, teils alkoholisiert, mit dem Segen des orthodoxen Bischofs. Erst flogen Steine, dann machten sie Jagd auf jüdische Männer, Frauen und Kinder, die sie verprügelten und ermordeten, deren Geschäfte und Wohnungen sie plünderten, zerstörten oder anzündeten.

Die Pogrome von Chişinău im April 1903 gingen als die folgenschwersten antisemitischen Ausschreitungen der Zeit in die Geschichte des Russischen Reiches ein. 49 Todesopfer waren zu beklagen, rund 600 Juden wurden verletzt, zahlreiche Frauen vergewaltigt und etwa 1.500 Gebäude in jüdischem Besitz zerstört. Die Namen der 49 Toten finden sich auf der Infotafel aufgelistet, soweit bekannt. Unter Nummer 8 steht der Name Kelman Voliovich, dem Großvater von Ida Voliovich. In ihrem Interview mit Centropa teilte sie die Erzählung ihres Vaters über die Pogrome mit:

1903 ereignete sich in der Familie meines Vaters eine Tragödie: Mein Großvater Kelman Voliovich wurde in den 1840er Jahren in […] Orhei […] geboren und verbrachte dort seine Jugend. Später zogen er und meine Großmutter Hina […] nach Chişinău, wo Kelman ein Getreidehändler wurde, ein reicher und angesehener Mann. Mein Großvater besaß ein großes dreistöckiges Haus im Zentrum der Stadt […]. Großmutter Hina kümmerte sich um die Kinder und den Haushalt. Sie hatte Hausmädchen, die ihr bei der Arbeit halfen. Sie waren eine religiöse Familie. Mein Großvater hatte einen Sitz in der Synagoge der Metzger, einer großen und schönen Synagoge in der Izmailskaya-Straße. Mein Großvater verstand sich gut mit seinen jüdischen und moldawischen Nachbarn, er verweigerte ihnen nie Geld oder Ratschläge. Als daher am Pessach-Tag 1903 sein Nachbar und dessen ukrainischer Freund, der am Vortag von Mykolajiw gekommen war, in seinen Hof kamen, ging Kelman auf sie zu, um seine Gäste zu begrüßen. Und seine Töchter Ita und Hava, junge schöne Mädchen mit langen schwarzen Haaren, kamen mit ihm heraus. Ihre Nachbarn, vom Alkohol berauscht, kamen jedoch nicht mit guten Absichten – sie wussten, dass die Juden in der Stadt geschlagen und ausgeraubt wurden und wollten sich an Kelman bereichern. Als sie die Mädchen sahen, gingen sie auf sie los. Mein Großvater setzte sich für seine Töchter ein. Die „guten Nachbarn“ schlugen ihn gnadenlos, und der Mann aus Mykolajiw […] schlug meinem Großvater mit einer Eisenstange auf den Kopf. Großvater Kelman wurde in das jüdische Krankenhaus gebracht, wo alle Opfer dieses „blutigen Osterfestes“ eingeliefert wurden.
Diese schreckliche Katastrophe erschütterte die Familie. Großmutter Hina starb kurz nach dem Pogrom. Die Schwestern Ita und Hava erholten sich körperlich, aber ihr psychischer Zustand war schrecklich. Sie heirateten nie. Die ganze Stadt wusste, dass die Mädchen vergewaltigt worden waren […]. Dies war eine Familientragödie. Nach jüdischer Tradition sollten die älteren Schwestern als erste heiraten, und da sie es nie taten, konnten auch die übrigen Kinder nicht heiraten.

Zu der Zeit lebte auch die Familie von Zakhar Benderskiy, der 1912 in Chişinău geboren wurde, in der Stadt. Seine Großeltern überlebten die Pogrome. In einem Centropa-Interview aus dem Jahr 2002 schilderte er die Familienerinnerung daran:

Ich erinnere mich an meine Großmutter im Rollstuhl. Sie war gelähmt. 1903 gab es das schrecklichste jüdische Pogrom in Chişinău. Es dauerte drei Tage. Die Leute sagten, es sei von der russischen Regierung arrangiert worden. Viele Juden wurden getötet und viele Häuser zerstört. Die Polizei griff nicht ein. Es gab keine Polizisten auf den Straßen. […] Mein Vater und Großvater erzählten mir von diesem Pogrom. Wir hatten eine ganze Reihe von Bildern, die mein Großvater nach dem Pogrom gemacht hatte, aber sie gingen alle während des Krieges und der Evakuierung verloren. Ich erinnere mich an ein Bild von dem Laden meines Großvaters mit zerbrochenen Fenstern und einem totalen Chaos im Inneren. Ich wusste, dass es auch ein Bild von unserem Haus nach dem Pogrom gab. Ich fragte meine Verwandten danach, und später schickte mir mein Bruder es aus Israel. Es existiert ein Bild von unserem Haus und ein weiteres von der Straße mit den Leichen unserer Nachbarn auf dem Bürgersteig. Mein Vater erzählte mir, dass mein Großvater diese Bilder vor Gericht präsentierte. Auch meine Großmutter fiel dem Pogrom zum Opfer. Mein Großvater war zu dieser Zeit in den umliegenden Dörfern geschäftlich unterwegs. Meine Großmutter war allein zu Hause. Sie wurde von dem Mob sehr hart geschlagen. Sie ließen sie bewusstlos im Hof liegen und dachten wohl, sie sei tot. Sie überlebte, aber ihre Wirbelsäule war verletzt und sie verbrachte den Rest ihres Lebens im Rollstuhl. […] Meine Großmutter starb 1923. Mein Großvater hat sich sehr viel Mühe gegeben und viel Geld dafür ausgegeben, seine Fabrik und sein Haus nach dem Pogrom wiederaufzubauen.

Über die dramatischen Ereignisse im April 1903 berichtete die zeitgenössische Presse in Westeuropa und in den USA kritisch. Berühmte russische Persönlichkeiten, wie der Schriftsteller Wladimir Korolenko, auch Leo Tolstoi und Maxim Gorki, schalteten sich ein, verurteilten die Gewalt und zeigten sich mit den jüdischen Opfern solidarisch. Gedichte, Essays und Romane zeugen von der Wucht der Ereignisse; die wissenschaftliche Aufarbeitung reicht bis in die Gegenwart.

Neben den zahlreichen antisemitischen Übergriffen gab es aber auch Fälle von nachbarschaftlicher Unterstützung, die etwa die Großmutter von Shlima Goldstein vor den marodierenden Horden rettete:

Meine Großmutter war ein freundlicher Mensch. Sie hatte viele jüdische und moldawische Bekannte. Meine Großmutter erzählte mir, dass während des Chişinău-Pogroms 1903 ihre moldauischen Nachbarn ihr und ihren beiden Kindern in ihrem Haus Unterschlupf gewährten.

Unter dem Eindruck der Pogrome kam es neben dem Erstarken des zionistischen Gedankens schließlich zu einer großen Migrationswelle aus Chişinău – in alle Welt.

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